06.10.2013 | theaterkritiken | VonWolf Banitzki

 

Spielhalle Amerika nach Franz Kafka

 

Karl Rossmann wird nach Amerika geschickt, um eventuellen finanziellen Verpflichtungen aus dem Weg zu gehen, denn der Knabe ist von einer Dienstmagd verführt worden. Die Frau wurde schwanger und gebar einen gesunden Knaben. Karl, ein ehrlicher und aufrichtig naiver Junge kommt mit dem Schiff in New York Amerika an und wird von seinem Onkel Jakob in Empfang genommen. Der Onkel breitet wie eine Glucke seine Fittiche über den Jungen. Als Karl gegen den Willen des Onkels einer Einladung Herrn Pollunders auf sein Anwesen folgt, wo er sich dessen Tochter Klara zu erwehren hat, wird ihm nach Ablauf einer bestimmten Frist sein Koffer und sein Schirm ausgehändigt und er wird vom zutiefst beleidigten Onkel Jakob aus dessen Obhut in die „Freiheit“ entlassen. Damit beginnt die Odyssee des unschuldigen und recht unbedarften Knaben durch Amerika, die endlich in Oklahoma enden soll. Dabei begegnet er zwielichtigen Gestalten wie Robinson und Delamarche, die ihn immer wieder in Verlegenheit bringen. Durch sie verliert er seinen Job als Liftboy und kommt in den Haushalt von Brunelda, einer exzentrischen Dame im Rollstuhl. Schließlich gelingt es ihm auszubrechen und er gelangt nach Oklahoma, wo er im „Theater von Oklahoma“ aufgenommen wird. Mit der guten Aussicht auf Erfolg seiner Bemühungen, ein guter Mensch zu bleiben und so seine Eltern zu versöhnen, endet der Fragment gebliebene Roman Kafkas.
 
Das Werk nimmt eine Sonderstellung im Œuvre Kafkas ein. Max Brod, der Freund, Vertraute und Nachlassverwalter Kafkas schlägt den Roman den beiden anderen Romanen „Das Schloss“ und „Der Prozess“ zu und betitelt sie gemeinsam als die „Trilogie der Einsamkeit“. Zugleich benennt er aber auch den Unterschied zwischen den Helden Josef K. und Karl Rossmann, der vornehmlich darin besteht, dass Karl in seiner naiven Aufrichtigkeit nie gänzlich Spielball der Umstände wird. Er kann der Allmacht des alles zermahlenden (kafkaesken) Systems entrinnen und es darf angenommen werden, dass Kafka den Roman, dessen Grundthema, wie in den anderen Romanen auch, „Fremdheit und Isoliertheit“ ist, zu einem „versöhnlichen“ Ende gebracht hätte. Brod meinte, dass Karl Rossmann durch die Aufnahme in das „Theater von Oklahoma“ „Beruf, Freiheit und Rückhalt, ja, sogar die Heimat und die Eltern durch paradiesischen Zauber “ in Aussicht gestellt sei. In diesem Sinn bekannte die Regisseurin Julie Van den Berghe: „Ich finde es ist eine sehr rührende, tragische Geschichte, die immerhin eine Atmosphäre von positiver Energie atmet.“ Diese Attribute versuchte sie gleichsam auf ihre Inszenierung in der Spielhalle der Kammerspiele zu übertragen.
 
Die Bühne von ruimtevaarders (Karolien De Schepper & Christophe Engels) mit der größtmöglichen, grünen Spielfläche, wird im Hintergrund durch eine roh gezimmerte Wand begrenzt, die einige Ein- und Ausgänge vorhielt. In diese Wand eingelassen war ein winziger boxenartiger Raum, der Kajüte sein konnte, aus der Wand herausgelöst aber auch ein Lift. Ein Baum mit angeschraubtem Freiluftlautsprecher konnte auf Rollen beliebig verschoben werden, ebenso ein alter Scheinwerfer und ein liegenartiges Podest.
 
Empfangen wurden die Zuschauer von zwei Karl Rossmanns, Christian Löber und Stefan Hunstein. Damit griff die Regisseurin die sehr frühe Idee Kafkas auf, das „Amerika“ die Geschichte zweier verfeindeter Brüder erzählen sollte, von denen einer in das Gelobte Land ging, während der andere in einem Prager Gefängnis saß. Löber, der mit Gitarren- oder Klavierspiel Stimmungen erzeugte oder musikalisch kontrastierte, und Hunstein wechselten einander in der Gestaltung der Rolle ab, wobei Stefan Hunstein den größeren Part zu bewältigen hatte. Beide gestalteten sie den Charakter des Auswanderers Karl als sensibel, zurückgenommen, naiv und gleichsam verzweifelt nach Wahrheit und Recht suchend. Hunstein und Löber waren unbedingt Garanten dafür, dass die Inszenierung tatsächlich „eine Atmosphäre von positiver Energie atmete“.
 
Julie Van den Berghe machte aus der anrührenden Geschichte kein Rührstuck. Sie überzeichnete die Figuren im Gegensatz zu der des Karl Rossmann kräftig und trieb sie gelegentlich bis an die Grenzen des Clownesken. Katja Bürkle hatte die Rollen der jungen Frauen zu spielen, Klara und Therese. In letztere verliebte sich Karl. Sie interpretierte die Rollen sehr gegensätzlich und schuf damit eine das Verständnis der Geschichte erleichternde Unterscheidung, aber auch erheblich mehr Spannung. Diese Unterscheidung fiel bei den Herren Hess, Telgenkämper, Merki und Simonischek hingegen nicht allzu deutlich aus. Sie spielten fast durchgängig in ein und demselben Kostüm, was der emotionalen Annahme der Rolle nicht unbedingt dienlich war. So gab Stefan Merki, der mit seinem Bart und seinem agilen Auftreten in kurzen Hosen einen hervorragenden Asterix abgegeben hätte, einen Kapitän, einen Diener und Robinson. Edmund Tegenkämper wechselte zwar das Kostüm, doch hielt ihn die Regisseurin nicht zu einem deutlich unterscheidbaren Spielgestus an. Das traf ebenso auf den in seinen Rollen kraftmeiernden Walter Hess wie auf die bemerkenswert filigran gestaltende Christin König zu. Es mangelte schlichtweg an differenzierter Rollengestaltung. Das war umso bedauernswerter, da man weiß, zu welchem komödiantischen Feuerwerk diese Darsteller fähig sind. So schoren sie alle ihre Rollen mehr oder weniger jeder für sich über den ureigenen Kamm.
 
Das war denn auch der Grund, warum sich die ohnehin schon langen 2 Stunden und 40 Minuten noch länger anfühlten. Es gab wunderbar poetische Momente, die vornehmlich vom Spiel Stefan Hunsteins ausgingen und in denen anrührende Menschlichkeit aufblitzte. Auch hatte sich Julie Van den Berghe viel Zeit genommen, um wichtigen Momenten ihren emotionalen Stellenwert zu geben. Das entspricht zwar nicht heutiger Sehgewohnheit, wie sie von der Werbeindustrie geformt wurden, doch diente es in jedem Fall der Wahrheitsfindung. An guten ästhetischen Ansätzen von Seiten der Regie mangelte es nicht, allerdings an einer konsequenten Durchführung derselben und so war die Erschöpfung beim Zuschauer größer als das Hochgefühl, eine bemerkenswerte Geschichte erlebt zu haben, die ganz nebenbei einige Streichungen vertragen hätten. Insbesondere die Episode um Frau Brunelda ist bei Kafka ein schwer erkennbarer und zu deutender Torso geblieben. Sie dennoch unterhalb des Bühnenbodens, also für den Zuschauer weitestgehend unsichtbar, zu spielen, war verwirrend und erzeugte Ratlosigkeit. Es war ein Abend, der temporär große Gefühle erzeugte, dem leider die komödiantische Leichtigkeit abging und dessen Atem einer „Atmosphäre von positiver Energie“ gelegentlich die Schwere eines Marathonlaufes anhaftete.

 

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mittel
 

04.10.2013 | Mittelbayerische Zeitung | Von Michaela Schabel

 

Aufbruch in die die Verlorenheit: Mit Franz Kafkas „Amerika“ finden die Münchner Kammerspiele einprägsame Bilder für menschliche Einsamkeit.

 

München. „Are you lonesome tonight?“ Elvis Presleys besingt, worüber Franz Kafka schrieb: das Lebensgefühl Einsamkeit. Aus der Synthese gelingt Regisseurin Juli Van der Berghe eine bild- und symbolträchtige Inszenierung von Kafkas „Amerika“ in den Münchner Kammerspielen. Kafkas Romanfragment, eine düstere Parabel alter Machtstrukturen in der Neuen Welt, wird zum exaltierten Stationendrama (Text: Jeroen Versteele, Julie Van den Berghe). Aus der slapstickartig grotesken Szenencollage starrt kafkaeske Einsamkeit. Dieser amerikanisierte Kafka trifft pfeilgerade in sämtliche US-Klischees.
 
Die verbretterte Bühne in der „Halle“ der Münchner Kammerspiele wandelt sich überraschend zum mächtigen Frachter. Davor steht der Erzähler (Christian Löber) wie ein smarter Conférencier und ist gleichzeitig Alter Ego Karl Rossmanns (Stefan Hunstein), Kafkas Antiheld, der nach Amerika aufbricht. Das Schiff wird Sinnbild der neuen Welt: unten die Kleinen, oben an der Reling die Mächtigen. An Land geht es genauso weiter. Der grüne Boden der Hoffnung ist tückisch: Falltüren führen ins soziale Aus.
 
Rossmann, dieser Kafka-Loser, wird benutzt, eingequetscht in die Bewegungsmuster der amerikanischen Karriereleiter, hinabgezogen in den gluckernden Sumpf der Amoralität. Stefan Hunstein spielt ihn mit naiven Charme als good boy. Erst als er ausgeraubt wird , ganz nackt auf der Bühne steht, verdichtet er die Figur zur geschundenen Kreatur. Befreiung winkt erst, als er Brücken abbricht, weiterreist ins „Theater von Oklahoma“, ins Schattenreich des Todes, wo er nach einigem Zögern eingelassen wird und all die anderen Weggefährten in traumatischer Leichtigkeit vorbeikreisen sieht (Bühne: Ruimtevaarders). Ein sehr poetischer Schluss für Kafkas Amerika.
 
Die anderen spielen sechs Schauspieler, aneinander vorbeilebende Kreaturen in Mehrfachrollen, egal ob Auf-und Absteiger immer Gefühlsautisten, meist stimmige, amerikanisch klischeehaft aufgepeppte Interpretationen von Kafkas Typenarsenal. Mit durchdringender Artikulation vermittelt Walter Hess als sturer Bürokrat die Bedrohlichkeit der Macht. Christin König brilliert als Mannweib, knallhart als Onkel und abgerackerte Oberköchin mit unbefriedigter Sexualität und als stöhnende Erotomanin Brunelda. Schauspielerisch hervorragend agiert Katja Bürkle als Klara und Theresa zwischen Sex-Wahn und liebessüchtiger Einsamkeit. In der zarten Annäherung Theresas an Rossmann entsteht Emotionalität – ein einziges Mal in dieser marktschreierischen neuen Welt, für die Elvis Presleys Einsamkeitssong zum Leitmotiv wird. „Are you sorry we drifted apart?“ Angesichts dieses Figurenarsenals ist der Tod Erlösung. Stefan Merkis gigantischer Schnauzbart (Kapitän, Kleinkrimineller), nostalgisches Zeichen des gemütlichen Europas, ist längst passé.

 

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04.10.2013 | Münchner Merkur| Simone Dattenberger

 

München – Julie Van den Berghe versuchte in der Spielhalle der Kammerspiele, Kafkas „Amerika“ für die Bühne zu adaptieren.

 

„Lerne Deine Stellung begreifen“, wird einmal in Franz Kafkas Romanfragment „Amerika“ dem jugendlichen „Helden“ Karl Roßmann entgegengehalten. Das kann mit konservativem Beharrungsvermögen genauso zu tun haben wie mit gesellschaftlicher Unterdrückung – da kann aber auch viel Wahres daran sein. Zum Beispiel im Theater. „Lerne Deine Stellung begreifen“ würde bedeuten: „Lerne begreifen, dass deine Mittel die Bühne, die Schauspieler und das Stück sind. Romane mit einem weiten erzählerischen Bogen gehören einfach nicht dazu.“
 
Wenn Dramaturgen und Regisseure – wie im vorliegenden Fall von „Amerika“ – partout ein Stück schreiben möchten, sollen sie Dramatiker werden und das entsprechende Handwerk lernen. Einen im Übrigen nicht gerade locker-flockig daherkommenden Roman einfach umzumodeln, wie es Jeroen Versteele und Julie Van den Berghe versuchten, ist naiv, um nicht zu sagen unredlich. So ein Unglückswesen hatte am Mittwochabend unter dem Titel „Amerika“ in der Spielhalle der Münchner Kammerspiele Premiere (knapp drei Stunden; Sitzkissen nicht vergessen – Holzbänke!).
 
Der Text greift brav die Erzählepisoden und Motive auf (sexuelle Übergriffe, Funktionieren in der sozialen Hierarchie, undurchschaubare Regeln, Ungerechtigkeit, Unfreiheit), und die zaghafte Inszenierung von Julie Van den Berghe tastet sich an Kafkas groteske Weltsicht heran. Am eindrucksvollsten hilft ihr dabei das Bühnenbild von ruimteVaarders. Das Team hat in die Halle des Probengebäudes eine Wand aus Kulissenplatten gebaut, deren Rückseiten zur Zuschauertribüne zeigen. So desillusionierend diese Anti-Kulissen sind, so viele Illusionen enthalten sie – bis hin zu einer Art Zauberkasten, aus dem Menschen auftauchen oder verschwinden. Obendrein wird plötzlich die gesamte Bühnenfläche größer, als habe sich das Haus ausgedehnt. Die Bühnenbildner haben also Kafka verstanden, seine beunruhigende Albtraum-Realität. Das Unausweichliche, zugleich nie wirklich Fassbare.
 
Die Regisseurin setzt das in der Inszenierung zu simpel um: mit der verdoppelten Hauptfigur, mit meist karikaturhaften Typen, die vor allem Hupf-auf-Charme, riesige Schnauzbärte, vergröberte Nasen oder abstehende Ohren herumtragen müssen, und mit Elvis-Songs (Cristin König, Stefan Merki, Max Simonischek, Walter Hess, Edmund Telgenkämper). All das bringt freilich immer noch keine Stimmung in die Bude – weder skurrile noch kafkaeske. Eigentlich müsste es einem doch stetig mulmiger werden in diesem Amerika, immer bedrückter ums Herz wegen dieses netten Kerls, dieses Karls aus Prag. So ist einem höchstens mulmig, weil einem der Popo wehtut, die Luft schlecht ist, und der Herr nebendran deswegen wegkippt. Van den Berghe zwingt ihren Schauspielern außer einer unentschiedenen Haltung einen schleppenden Rhythmus auf. Und Generalpausen. Die sind auf der Bühne wunderbar, aber nur wenn sie mit atemloser Spannung gefüllt sind. In der Spielhalle herrschte hingegen Müdigkeit.
 
Die konnten selbst die Schauspieler nur zum Teil in Schach halten. Stefan Hunstein und Christian Löber waren die beiden Karle, letzterer eher auf den Erzähler abonniert. Er wird am Ende in den Armen des anderen niedersinken. Beide wollen möglichst nicht plump wirken, sich nicht als reiner Tor aus Europa ausstellen. Das Wesen dieses tapferen Menschleins finden sie nur ansatzweise. Katja Bürkle befreit sich aus den ihr zugedachten Stereotypen schließlich in der Rolle der Therese und berührt zutiefst mit einer Studie der Zartheit.
 
Aus solchen Szenen kluger Kafka-Annäherung und intensiver Bühnen-Kunst hätte „Amerika“ bestehen müssen – so jedoch blieb es meist bei Langeweile.

 

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01.10.2013 | Abendzeitung | Michael Stadler

 

Julie Van den Berghe inszeniert den berühmten, unvollendeten Roman mit Stefan Hunstein und Christian Löber als Hauptfiguren

 

Nein, meint Julie Van den Berghe, sie war noch nie in den Amerika. Das mache aber auch nichts. Ganz im Gegenteil, immerhin ist auch Kafka niemals dort gewesen. Kafka hat dennoch zwischen 1911 und 1914 einen Roman über einen jungen Mann geschrieben, der, weil er ein Dienstmädchen geschwängert hat, von seinen Eltern in die Neue Welt verfrachtet wird. Laut Tagebucheinträgen und Briefen wollte Kafka den Roman „Der Verschollene“ nennen. Sein Verleger Max Brod aber, der 1927 das unvollendete Werk postum veröffentlichte, nannte es nach dem Ort des Geschehens: „Amerika“. So lautet nun auch der Titel der Theater-Adaption der 32-jährigen Regisseurin Julie Van den Berghe in der Spielhalle der Kammerspiele.
 
Das Haus habe ihr den Roman vorgeschlagen, erzählt sie, „mich reizte, dass er von einer Identitätssuche erzählt. Erst, indem man sich mit anderen verbindet, kann man jemand werden. Die anderen definieren dich. Das ist ein Kampf, unter dem jeder auch leidet.“ Der junge Karl Roßmann hat es schwer, in Amerika Fuß zu fassen: Nur kurz kann er sich im Landhaus seines reichen Onkels aufhalten, arbeitet dann als Liftboy in einem Hotel, findet sich später in einem Hochhaus wieder. Er wird immer wieder aufgenommen, ausgenutzt, verstoßen von seiner Umwelt. Die vielen Ortswechsel machen Julie Van den Berghe dabei wenig Kopfzerbrechen. Vieles kann auf der Bühne behauptet werden: „Da Kafka nie in Amerika war, geht es eben auch um die Fantasie, was in Karls Kopf passiert. Und was ist schöner, als im Theater etwas über Imagination zu erzählen?“
 
Gleich zwei Schauspieler werden Karl spielen, Stefan Hunstein und Christian Löber, wobei Löbers Karl in den Augen Van den Berghes auch Kafka selbst sein könnte. „Vor ein paar Tagen haben wir in Kafkas Biographie zufällig entdeckt, dass er ursprünglich über die Reise zweier Brüder schreiben wollte, der jüngere bleibt im Gefängnis in Prag, der ältere geht nach Amerika. Wir waren also auf der richtigen Spur!“ Kafkas Verleger Max Brod meinte, dass ihn der Roman an die Filme von Charlie Chaplin erinnere, eine Sicht, die Van den Berghe teilt. Zusammen mit ihren Schauspielern schaute sie sich viele Chaplin-Filme an, „die Körpersprache nimmt einen großen Teil der Performance ein.“ Ihr Theater ist eines der poetischen Bilder, wie man bei ihrer erste Inszenierung für die Kammerspiele vor zwei Jahren, „Agatha“ von Marguerite Duras, sehen konnte. Johan Simons Ehefrau, Elsie de Brauw, war eine ihrer Lehrerinnen an der Theaterschool in Amsterdam. Nach einigen Zusammenarbeiten schlug de Brauw die junge Regisseurin fürs NT Gent vor, wo Simons Intendant war.
 
Als Van den Berghe erstmals dort Regie führte, war er jedoch schon Chef der Kammerspiele. Am NT Gent, wo sie heute Hausregisseurin ist, inszenierte sie 2008 „India Song“ nach einem Film von Marguerite Duras. Das Werk der Französin Duras gefällt Van den Berghe, „es gibt diese Stimmung von Aussichtslosigkeit, die aber fast etwas Schönes bei ihr hat.“ Bei Kafka kann die Atmosphäre bedrückend sein, der Lärm der Großstadt, die Machtstrukturen, in denen Karl sich verfängt. Schon im Leben ihrer Tochter könne sie solche Mechanismen erkennen, so Van Den Berghe, „im Kindergarten geht es bereits darum, wer das Sagen hat, wer wen verletzen darf – und die sind erst fünf Jahre alt!“ Kafka starb 1924 vor der Vollendung des Romans.
 
Dennoch empfindet Van den Berghe „Amerika“ nicht als ein unfertiges Werk: „Karl sitzt zuletzt im Zug, das ist wie im Film: der Cowboy, der in den Sonnenuntergang reitet, ins Ungewisse. Aber allein dieses Weggehen ist doch ein klares Ende.“ Karl fände zu einer Form der „totalen Selbstakzeptanz“, was man vielleicht auch als seinen Tod interpretieren könnte. Julie Van den Berghe möchte sich da nicht festlegen. Aber wer braucht auch schon ein Happy End? „Für mich ist es viel wichtiger, sich nach dem Glück zu sehnen als es zu finden.“

 

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